AFRIKAS VERWUNDETES HERZ
Weihnachten in Kigali. Es ist warm, staubig und dunkel, und nichts deutet darauf hin, dass wir uns in der Hauptstadt des Reiches der 1000 Hügel befinden. Und schon gar nicht, dass es Weihnachten ist. Im Vorhof unserer aus roten Ziegeln erbauten Unterkunft steht ein mitgenommenes, völlig zerzaustes, grünes Unding mit kiloweise Lametta. Aus Plastik, versteht sich.
Ruanda ist ein kaum nennenswerter Punkt im Herzen des schwarzen Kontinents, wenn man von der Fläche ausgeht. Lässt man diese aber außer Acht, findet man sich in einem Ballungsraum von Mensch und Tier wieder, in einem hügeligen, bildschönen Universum, dessen Landschaft und blutige Geschichte zu Tränen rühren.
Fast 11 Jahre nach dem erschütternden Genozid, den die vereinten Nationen mehr oder weniger ignoriert zu haben scheinen, habe ich mich aufgemacht, die natürlichen Schätze des Landes fotografisch zu dokumentieren.
EIN BEWUSSTSEIN FÜR DIE NATUR
Drei Nationalparks schmiegen sich an die Grenzen zu den Nachbarländern, teilweise undurchdringlich und unüberwindbar. Von der trockenen Savanne des Akagera Nationalparks, dessen Viehbestand durch exzessive Wilderei während des Bürgerkrieges rapide abgenommen hat, über dichten, immergünen Regenwald des Nyungwe Nationalparks mit einer relativ unbekannten Schimpansen-Population bis hin zu den Vulkanen am großen Grabenbruch, auch bekannt als Virunga-Massiv oder Mondberge, die das Erbe der Primatenforscherin Diane Fosseys bewahren – die Berggorillas.
Diesen allzu menschlichen Riesen zu begegnen, ist eine Meditation über die eigenen Ursprünge, ist ein Schritt zurück in ein fragiles, leicht zerbrechliches Paradies, in dem alles seinen Platz hat und keine Plätze mehr frei sind. Die unmittelbare Anwesenheit habituierter, frei lebender Menschenaffen ist eine Naturgewalt, wie vom Himmel gefallen. Sie fegt überflüssige Gedanken aus dem Kopf, bringt das Leben so gezielt auf den Punkt, das einem Schwindel befällt.
Seit der schützenden Waldherrschaft Fosseys 1985 gewaltsam ein Ende bereitet wurde, waren die schwarz bepelzten Riesen vor niemandem mehr sicher. Da die Tiere selbst keine politischen Grenzen kennen und auch niemals über die Probleme ihrer aufrecht gehenden Verwandten aufgeklärt werden können, queren sie seelenruhig auf den Virungabergen hin und her, von Ruanda in den Kongo, von dort nach Uganda, und wieder zurück. Viele von denen, die es einmal gewagt hatten, ihren Fuß über die Grenze des Kongo zu setzen, mussten diesen Akt mit ihrem Leben und dem der ganzen Sippe bezahlen.
Was aber schlußendlich Ruanda vor vielen anderen Staaten mit ebensolchen gewaltigen natürlichen Ressourcen geschafft hat, ist, ein Nationalbewusstsein zu entwickeln, welches die Natur des Landes betrifft. Nirgendwo sonst, so habe ich den Eindruck, wird Naturschutz dermaßen zu einer militanten Angelegenheit. Sich dessen bewusst geworden, dass sanfter Ökotourismus wirtschaftlich wie ökologisch zu einem existenziellen Grundpfeiler werden kann, präsentiert die Nationalparkverwaltung Ruandas bereits eine ganze Armee an olivgrün uniformierten Park-Rangern, denen die Begeisterung für das, was sie zu schützen haben, ins Gesicht geschrieben steht. Menschen mit Ausdauer, Geduld und Liebe zum Detail.
EINE KOLLEKTIVE ERINNERUNG
Das Licht ist völlig anders, Die Farben sind schwer und satt, die Wahrnehmung intensiver. Es riecht nach Erde, Lehm, Vieh und getrocknetem Blut. Die Sonne hängt tief, man möchte meinen, das tut sie den ganzen Tag. Licht und Schatten sind in immerwährendem Kontrast, auch dann, wenn die Sonne nicht durch die tief hängenden Wolken dringt.
Das ganze Land wie ein riesiger Muskel, ein Herzmuskel. Pulsierend, aber geschwächt. Verletzt durch einen großen Krieg der Missverständnisse und Vorurteile. Das Volk ist müde und entkräftet, aber nicht ohne Hoffnung. Der Frieden in Ruanda ist ein oberflächlicher Friede, eine Kruste verübergehenden Waffenstillstandes über einem glühenden Erdinneren.
Fährt man mit dem Auto des Nachts die Straße entlang, irgendwohin, so sind es nur die eigenen Scheinwerfer, die diese Schwärze durchdringen. Und überall da, wo das Licht hintrifft, sind Menschen. Menschen auf dem Weg, mit unbekanntem Ziel, in völliger Dunkelheit, als wären sie ohnehin blind und würden sich nur auf ihre Intuition verlassen.
Und dann sucht mich die Geschichte heim, das lautlose Wehklagen in meinem Kopf, der schwarze Holocaust. Wer sind die Täter und wer die Opfer? Wer hat denunziert und wer ist gerade noch von der Abschussliste gesprungen? Die Menschen hier scheinen alle vom gleichen Volk zu sein. Von den kolonialen und westlichen Mächten beeinflusst sind sie alle worden.
Armes Ruanda. Starkes Ruanda. Man spürt den Überlebens- und Lebenswillen auf Schritt und Tritt. Den klaren Kopf nach einem heftigen Sturm, der Gedanken wieder in Ordnung bringt.
Beeindruckt hat mich das offene Umgehen mit dem vergangenem Grauen in Form von Mahnmalen und Museen, die mit so viel Rücksicht vor den Toten errichtet wurden, als wäre der Frieden in diesem Land für die nächsten 100 Jahre gewährleistet.
Die Blicke sind nach vorne gerichtet. So viele Menschen Ruanda auch verloren hat, so viele Kinder scheinen eine neue Zukunft zu sichern. Auf Schritt und Tritt rennen sie uns nach, halbnackt, barfuß, verrotzt und dreckig. Doch was diese Kindern besitzen, ist eine unglaubliche Kraft. Ich habe diese Kraft auch bei den Gorillas, Schimpansen und Antilopen entdeckt.
Man spürt sie. Diese Kraft zum Überleben.