MUTTER MEER
Es ist Nacht, der Strand menschenleer. Wo untertags noch sonnenhungrige Urlauber die Bucht von Dafni heimsuchen, herrscht nach Sonnenuntergang eine trügerische Ruhe. Nachdem das Licht der Tavernen erloschen und die letzten Tagesausflügler satt und müde die Bucht per Leihauto verlassen haben, wird das Paradies zur verbotenen Zone, gewahrt durch die Blicke aus zwei wachsamen Augen. Viel zu wenig, um den gesamten Strandabschnitt zu kontrollieren. Doch Sparmaßnahmen müssen sein. Und das in einem der sensibelsten, ungewöhnlichsten und umstrittensten Schutzgebiete im Mittelmeerraum.
Der Strandwächter greift zu seinem Nachtsichtgerät und hält Ausschau nach schwarzen, sich langsam bewegenden Silhouetten, die langsam die leichte Anhöhe bis zu den Tavernen hochkriechen. Viel zu oft, so bemerkt er flüsternd, kehren sie unverrichteter Dinge wieder um. Das Licht der Sterne, die sich als Milchstraße regenbogengleich über die Bucht wölben, erzeugt eine graublaue Dunkelheit, die scheinbare Bewegungen erahnen lässt.
Tatsächlich tut sich etwas am unteren Strandabschnitt. Der leicht ansteigende Küstenstreifen ist eine Fläche voller Treibgut, Geröll und zerstampftem Sand. Faustgroße, von den Gezeiten blank polierte Steine und jede Menge Kies erschweren das verzweifelte, mühsame Unterfangen eines jener Tiere, die ohnehin schon auf diesem Planeten den schwarzen Peter gezogen haben. Denn das Leben einer unechten Karettschildkröte, auch bekannt unter dem lateinischen Namen Caretta Caretta, ist in keinster Weise ein Honiglecken. Das Gelingen der Aufgabe, die es zu erfüllen gilt, entscheidet über Weiterbestehen oder Erlöschen einer Spezies, die ihren Landgang mit ihrem größten und gefürchtetsten Feind teilen muss – dem Menschen.
AUF ANS (LEBENS)WERK!
Immer mal wieder heißt es, die Türme einer Sandburg zu umrunden oder umzustoßen, weit genug vom Meer wegzukriechen, um später das Gelege vor eindringendem Salzwasser zu beschützen. Die beiden Flossenpaare scheinen ziellos umherzurudern, das ganze Vorwärtsschieben, Drücken und Heben wirkt so dermaßen unbeholfen, als wäre das Tier niemals freiwillig hier gelandet. Das plötzliche Einwirken der Schwerkraft ist es, die den massigen Körper an den Boden presst – für das Tier, welches sein ganzes Leben weit draußen im Meer verbracht hat, völlig neue Bedingungen. Die Schildkröte hält an, rastet, keucht, tastet und schiebt sich weiter, bis es eine Fläche, frei von Steinen, erreicht zu haben scheint. Einmal an diesem Ort angekommen, unbeobachtet und ungestört, ist das Lebenswerk eines ausgewachsenen Schildkrötenweibchens so gut wie vollendet.
Die nächste Stunde bleibt das Tier an Ort und Stelle, um mit dem hinteren Flossenpaar ein 30 bis 40 cm tiefes Loch in den Sand zu puddeln. Unter das leise Rauschen des Meeres und dem Pfeifen des Windes mischt sich ein kaum hörbares Stöhnen und Ächzen, denn das Herauspressen von bis zu 120 Eiern in die freigelegte Mulde verlangt dem Muttertier einiges an Kraft ab. Oft werden nicht alle Eier auf einmal gelegt. Manchmal wiederholt die Schildkröte die Prozedur an darauffolgenden Nächten, wenn die Energie in der einen Nacht nicht mehr reichen sollte oder irgendetwas den hochempfindlichen Vorgang stört. Während der knapp einstündigen Prozedur sickern sekretartige Tränen aus den sandverklebten, dicken Augen, deren Bedeutung man bis heute nicht kennt. Überhaupt ähnelt der Kopf mitsamt seines mächtigen Schnabels an den eines Papageis.
Genau hier, vor 20 bis 30 Jahren, hat alles begonnen. Ist das Muttertier selbst geschlüpft, als ein Schlüpfling von vielen. Hat sich, weitab der Gezeitenzone, aus dem Sand gegraben und, völlig auf sich alleine gestellt, den gefährlichen, unwirtlichen Weg bis ins Wasser zurückgelegt. Ähnlich dem Weg eines Menschenkindes durch den Geburtskanal ins Freie sind die ersten Meter aus der schwer erklimmbaren Sandmulde bis zum rettenden Nass der Brandungswellen entscheidend über Leben und Tod. Wobei das Auswahlverfahren schon längst begonnen hat. Nämlich tief im Sand, hinter den ledrigen Schalen tischtennisballgroßer Eier, vor Keimen und der sengenden Sonne des glutheißen Sommers geschützt.
EVOLUTION VOR PUBLIKUM
Die freiwilligen Helfer von ARCHELON, einer 1984 gegründeten, lokalen Organisation zum Schutz der Unechten Karettschildkröten auf griechischem Gebiet, beginnen ihre Arbeit in den frühen Morgenstunden. Zu dritt oder zu viert zählen sie die markanten Spuren aller letzte Nacht an Land gegangener Tiere. Dort, wo die Spur in einem aufgewühlten Sandkrater endet, war der Landgang der Schildkröte erfolgreich. Das Gelege wird freigelegt, gezählt und verzeichnet. Vorsichtig wird die Stelle wieder zugeschüttet und mit einem hölzernen Konstrukt markiert, welches Urlauber und Strandwanderer daran hindern soll, das wertvolle Gut unter dem Sand zu beschädigen. Vor allem Ende Juli und Anfang August ist der Strand von Dafni übersäht mit kleinen Gerüsten. Dazwischen tummelt sich das badende Volk. Doch diese außergewöhnliche und umstrittene Koexistenz ist einzig und allein hier gestattet. Überhaupt spannt sich der Zante Marine Nationalpark über die komplette Bucht von Laganas im Süden der Insel Zakynthos. Nur hier, innerhalb dieses Refugiums, in welchem der Bootsverkehr an manchen Abschnitten komplett verboten ist, gibt es weitläufige Sandstrände, die für Touristen entweder ausnahmslos gesperrt oder nur teilweise begehbar sind. So gibt es hier anstatt Sonnenschirm- oder Liegestuhlreihen abgetrennte Zonen, in denen die kleinen Reptilien vor sich hinbrüten und ihrer Stunde Null entgegenharren. Dafni aber lässt sich in keines der beiden Modelle einordnen. Hier stoßen Nationalparkverwaltung, Naturschutz und Tourismus unsanft aneinander. An einen der wohl schönsten und naturbelassensten Orte der ganzen Insel, hört man immer wieder von langjährigen Besuchern und Kennern dieses Juwels im ionischen Meer. Lediglich eine unbefestigte, in Serpentinen steil zur Bucht hinunterführende Sandpiste lädt den naturinteressierten Urlauber auf eine kleine Robinsonade ein, inmitten klaren, türkisfarbenen Wassers und beeindruckenden Felsformationen, welche den rund 500m langen Strand begrenzen. Der Wunsch aber, eine Schildkröte oder gar Schlüpflinge zu Gesicht zu bekommen, geht jedoch meistens nicht in Erfüllung, da sich das Naturschauspiel normalerweise zu nachtschlafender Zeit abspielt. Dennoch begrüßen ursprünglich anmutende Tavernen ihre Ausflügler und locken sie mit dem besonderen Bonus eines Naturerlebnisses an ihre Tische.
Seit jeher ist dieses Gebiet im Besitz einiger Familienbetriebe, die sich laut ARCHELON vor Generationen illegal angesiedelt haben sollen und im Jahr 1999 Teil des Nationalparks geworden sind. Trotz vehementen Versuchen der Parkverwaltung, die sogenannten „Eindringlinge“ zu vertreiben, hat keine der Familien klein beigegeben. Von Regierung und Naturschutz seitdem argwöhnisch beäugt, versucht hier ein jeder, trotz des Unmutes, all die vereinbarten Regeln zu beachten – zum Leidwesen von Ökotouristen und Naturfotografen, die kaum mehr die Möglichkeit haben, auf nachhaltigem Wege die urtümlichen Reptilien zu beobachten. Dabei wäre dieser Ort mit etwas mehr staatlicher Unterstützung relativ leicht zu einem für jedermann befriedigenden Ziel sanften Ökotourismus umzugestalten, so einer der von ACHELON angestellten, unterbezahlten Nachtwächter, die, meist brotlose Musiker, Künstler und Saisonarbeiter, von 9 Uhr Abends bis 7 Uhr Morgens mutterseelenalleine die Schutzzone bewachen müssen. Ideen gäbe es genug. Videoschirme, ausgestattet mit Nachtsichtgeräten, um die Tiere nicht zu stören, den Besucher aber einen beeindruckenden Moment bescheren. Einen Infopoint, der über Do´s und Dont´s beim Beobachten der Tiere Auskunft geben soll. Kleine, geführte Gruppen, die vor allem das Schlüpfen der Schildkrötenbabys beobachten können. Alleine schon durch eine Parkgebühr für die Bucht von Laganas ließe sich das notwendige Budget dafür teilweise einheben, doch ohne Chance auf ein Naturschauspiel könnte dieser Nepp bei manchen sauer aufstoßen. Ob das idyllisch gelegene Landschaftsszenario von Dafni ausreicht? Wie man ein Naturschutzgebiet mit gezielt gerichtetem, streng reglementiertem Tourismus refinanziert und am Leben erhalten kann, davon weiß die Nationalparkverwaltung auf Zakynthos aber relativ wenig, trotz Fördergelder der EU, von denen keiner weiß, wo sie wirklich hinfließen. Überhaupt wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn man die überfüllten Glasbodenboote und heillos überfüllten Ausflugsschiffe betrachtet, die mit viel Getöse der Unterwasserwelt auf der anderen Seite der Bucht von Laganas zu Leibe rücken.
Herzstück des Nationalparks sind die 4 Niststrände im Osten der ausladenden Bucht, die zwischen Mai und Juli von den Schildkrötenweibchen heimgesucht werden. Schlechtes Timing. Denn da heißt es „Ab in den Urlaub“ für ganz Europa. In halbstündigen Intervallen starten und landen Charterflugzeuge vom Zante Airport, ihre Einflugsschneise liegt direkt über besagter Bucht, die Kinderstube von rund 40% aller im Mittelmeer vorkommenden Karettschildkröten.
EIN PANZER, WEICH WIE BUTTER
Ist das Gelege einmal sicher vergraben, dauert es rund 60 Tage, bis die Schildkröten schlüpfen. Während dieser Zeit übernehmen Sonne und Sand die Rolle des Brutkastens. Dort, wo die Eier vergraben liegen, herrschen Temperaturen um die 30 Grad Celsius. Liegen diese unter der Durchschnittsmarke, entwickeln sich Männchen. Ist es im Nest außergewöhnlich warm, schlüpfen später ausschließlich Weibchen.
Der wichtigste Augenblick im Leben des Tieres fällt in die heißeste Zeit des Jahres, untertags hat es bis zu 40 Grad im Schatten. Für die schutzlosen, 5 Zentimeter großen Babys ein lebensfeindlicher Umstand. Der Sand kühlt nach Sonnenuntergang aber sehr schnell ab. Vor allem nach kühleren Tagen wagen sich immer mehr Babys ins Freie, so wie es dieses Jahr im August der Fall war. Doch selbst da weiß man nie genau, wann es soweit sein kann. Ob während der Abenddämmerung, in der Nacht oder im ersten Licht des Tages. Um einem Ansturm an Touristen vorzubeugen, bleibt den Strandwächtern oft nichts anderes übrig als frühabendliche Schlüpflinge, deren kleine, fingerhutgroße Köpfe bereits aus dem Sand ragen, vorsichtig wieder zuzuschütten. Das verzögert den großen Moment bis nach der Sperrstunde des Strandes.
Am Morgen danach, im ersten Licht des Tages, sind die kleinen Geschöpfe von den umliegenden Steinen kaum zu unterscheiden. Einzig ihre plumpen, unkoordiniert scheinenden Bewegungen machen sie bemerkbar. Zum Wasser, zum Wasser – ist das einzige, was sie instinktiv befolgen müssen. Raus aus dem Sand, den ledrigen Kopf mit Sandkörnern verklebt, der Panzer weich wie Butter. Die extrem lichtempfindlichen Augen sehen nur eines – einen hellen, schimmernden Streifen, genau vor ihnen. Noch dazu geht es leicht bergab dem Wasser zu. Ein lebenswichtiges Indiz für den richtigen Weg. Immer weiter, über faustgroße Steine. Manchmal fällt das kleine Tier auf den Rücken, zappelt wie ein Käfer, eine halbe Ewigkeit lang, bis es die Kontrolle über den Körper wiedererlangt. Zum Ausruhen ist kaum Zeit, doch manche Nester sind dermaßen weit vom Wasser entfernt, dass es ohne Innehalten gar nicht anders geht. Das sind dann jene Momente, die die Helfer von ARCHELON zur Tat schreiten lassen. Allzu große Steine werden entfernt, der Sand geebnet. Schafft es das Baby nicht aus eigener Kraft, aus der Rücken- wieder in die Bauchlage zu kommen, wird auch dann etwas nachgeholfen, ohne das Tier aber direkt zu berühren. Dann geht es weiter, emsig und unermüdlich, stolpernd, Kreise ziehend, die Richtung aus den Augen verlierend. Dann ist irgendwann der umspülte Strandabschnitt kurz vor der Brandung erreicht. Nur noch ein paar Mal mit den Füßen rudern, bis das warme Wasser Schnabel, Augen und Körper umspült. Die Kraft der Gezeiten zieht das hilflos rudernde Etwas weiter ins Meer hinein. Schafft das kleine Ding die ersten paar Meter seines jungen Lebens nicht ohne helfende Hand, wird es die nächsten Tage vermutlich nicht überleben.
Denn die nächsten 24 Stunden, erzählt uns eine freiwillige Helferin aus Deutschland, lässt sich der Schlüpfling direkt unter der Wasseroberfläche durchs Meer treiben. Und dabei heißt es, vor allem Glück zu haben. Glück, nicht gefressen zu werden. Vor allem Seevögel aller Art wie Kormorane und Möwen haben die Tiere bei ihren Beuteflügen übers Meer sofort auf dem Radar. Überhaupt alles, was im Meer lebt, schwimmt, fliegt und atmet, ist ein potenzieller Feind. Verbergen kann man sich vor ihm nicht. Bleibt nur zu hoffen, dass die leicht verdiente Mahlzeit aufmerksamen Blicken entgeht. Dann, nach den ersten zwei Tagen kann das Jungtier die Wasseroberfläche zumindest schon verlassen. Nur eines von 1000 Tieren, so erzählt man uns, erreicht das zeugungsfähige Alter.
Am Strand von Sekania, einem streng geschützten Abschnitt westlich von Dafni, ist der Zyklus der Eiablage und des Schlüpfens den Gesetzen der Natur unterworfen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit sind die Morgenstunden im August erbarmungslose Kämpfe zwischen Leben und Tod. Zu späterer Stunde, nachdem alles vorbei ist, liest man den Sand des Strandes wie die Hieroglyphen an einer ägyptischen Grabwand. Ein dichtes Netz trapezförmiger Fußabdrücke überziehen den Sand, dazwischen die unverkennbaren, zarten Schaufelspuren kleiner Reptilien. Manchmal endet die Spur im Nirgendwo. Leblose kleine Körper werden von sanften Gezeiten den Strand entlanggespült, manche sind bereits einige Meter weit von der Küste auf den Meeresboden gesunken. Die Ursachen für ihren frühen Tod sind zahlreich, oft sind es neben dem Los der leichten Beute genetische Defekte wie erlahmte Extremitäten oder einem offenen Bauchpanzer. Manchmal sind die Mutationen aber auch so irreparabel, dass das Tier noch im Ei verstirbt. Oder das gesamte Nest auch nach 60 Tagen Brutzeit keinerlei Nachkommen entlässt.
Dafni hingegen ist für die Babyschildkröten bereits ein Glückstreffer. Aufgrund der vielen Besucher und der dort ansässigen Bewohner besteht kaum mehr Gefahr aus der Luft, vor allem nicht vom Nest bis ins Wasser. Im Wasser dann, erzählt eine Mitarbeiterin von ARCHELON, haben sie schon viel zu oft beobachten müssen, wie die schutzlosen Tiere aus dem Wasser gefischt werden. Ein schmerzlicher Anblick, dem man machtlos gegenübersteht, endet doch hier längst der Einfluss des Menschen auf den kompromisslosen Kreislauf der Natur.
Nach 60 Tagen und zwei weiteren Wochen des Zuwartens werden die Nester, ob geschlüpft oder nicht, vom Schildkrötenteam ausgegraben, meist vor Publikum und zu angekündigtem Zeitpunkt. Wie bei einer Vorlesung referiert der Leiter des Teams über die Natur und die Lebensweise der Schildkröten und dokumentiert jeden seiner Schritte. Jedes Ei wird ausgegraben, kontrolliert, gezählt und schriftlich aufgelistet. So ergibt sich am Ende der Saison ein klar erkennbarer Status Quo. Eine Datenauslese, mit der man Schutzmaßnahmen verbessern, erweitern oder gegebenenfalls anpassen kann.
AUDIENZ IM MEER
Ob es denn gar keine Möglichkeit gibt, die Tiere in Ruhe zu beobachten, ohne von Parkwächtern und Naturschützern vertrieben zu werden? Doch, die gibt es. Und nein, es sind keine überfüllten Ausflugsboote. Der besondere Moment entzieht sich jedem Einfluss einer Drittperson. Es ist dies die Begegnung im offenen Meer. Dabei muss man gar nicht so weit hinaus schwimmen. Dort, wo wir suchen, ist der Bootsverkehr verboten, maximal eine Luftmatratze darf ins Wasser. Am Besten ist es, zu schnorcheln oder zu tauchen. Am späten Nachmittag bis kurz vor Sonnenuntergang. Einen halben Kilometer vom Strand entfernt, da, wo das felsige Riff einer Sandfläche weicht, bewegen wir uns flossenschlagend in östliche Richtung. Der am Wenigsten von Menschen frequentierte Teil der Bucht wird vom wuchtigen Fragment eines Berges beherrscht, der im August 1953, beim großen Beben von Zakynthos, auseinanderbrach und zur Hälfte ins Meer stürzte. Da immer wieder mal auftretende Erdstöße neue Gesteinslawinen auslösen können, ist der Küstenabschnitt fast menschenleer. Für werdende Schildkrötenmütter der richtige Ort, um ungestört auf den Einbruch der Nacht zu warten. Tatsächlich dauert es gar nicht lange, da sehen wir einen hellen, schwerelos scheinenden Körper, das Sonnenlicht reflektierend, knapp unterhalb des Meeresspiegels. Das sanfte, gelbe Licht lässt den massigen, vorsintflutlich anmutenden Körper vor dem grünblauen Hintergrund des Meeres erstrahlen. Gemächlich dümpelt das Weibchen vor sich hin. Wir nähern uns vorsichtig, nie zu nah, immer seitlich. Das Tier hat uns längst bemerkt und taucht etwas ab. Einige Meter von uns entfernt rudert es wieder an die Oberfläche, um Luft zu holen. Dieser Vorgang geschieht alle 10 Minuten. Schildkröten sind Reptilien und daher Lungenatmer. Auf ihrem schartigen Panzer voller Risse und Schründe sitzen Seepocken. Überhaupt sieht der ganze Körper ziemlich mitgenommen aus. Niemand weiß, welche Gefahren das Weibchen bewältigen hat müssen, um hierherzukommen. Überhaupt weiß man sehr wenig über die Lebensweise und das Verhalten der Tiere. Die Männchen sind nach ihrer Wanderung ins Meer sowieso nie mehr zu sehen, sie folgen den Meeresströmungen quer über den Erdball, Brutstrände gibt es sowohl an der atlantischen Afrikaküste als auch in Indien oder Australien. Aber ein Tier kann noch so viel Platz auf der Welt haben, es kann dem Menschen, seinem größten Feind, nicht entkommen. Wurden sie zur Hochblüte der Schifffahrt massenweise gejagt und verzehrt, gelangen sie jetzt viel zu oft unter die Schleppnetze von Krabbentrawlern, in denen sie sich verheddern und langsam ersticken. Und ist der Mensch mal nicht aktiv beteiligt, sind es seine achtlos entsorgten Hinterlassenschaften, die auch an den entlegensten Orten in den Weltmeeren auf ihre unachtsamen Opfer warten. Plastik, Plastik und nochmals Plastik. Dieses Schicksal teilt die Karettschildkröte auch mit allen anderen Arten aus ihrer Familie.
BERGGORILLA UND SCHILDKRÖTE
Letzten Endes führt aber kein Weg daran vorbei, den Schutz der Tiere durch nachhaltigen Ökotourismus zu gewährleisten. Und das geht nur mit ausreichend Budget. Gibt es kein Geld, gibt es bis auf einige Ferialpraktikanten auch niemanden, der sich auf Dauer dafür einsetzen kann. Und auf Regierungsgelder, vor allem in Griechenland, wo der Staatsbankrott erst letzten Sommer gerade noch abgewendet werden konnte, braucht man nicht zu hoffen. Hier spart man ein, wo es geht. Naturschutz hat hinterste Priorität, das Volk an erster Stelle, natürlich verständlich. Das Schlimmste aber ist die Gleichgültigkeit, die man schürt, wenn man nicht damit aufhört, den Touristen nur als lästigen Störenfried wahrzunehmen. Was man mit Ökotourismus erreichen kann, sieht man bei den Berggorillas in Ruanda. Gezielt und nach strengen Regeln festgelegt, ist das Abenteuer Natur für beide Seiten - Tier und Mensch - eine glückliche Koexistenz, Korruption mal außen vor gelassen. Was aber haben Berggorillas mit Schildkröten gemeinsam, außer dass ihr Platz auf der roten Liste leider mehr als gesichert ist? Berggorillas sind habituiert, an den Menschen gewöhnt, ohne in großem Maße ihr Verhalten zu verändern. Schildkröten können das nicht, für sie ist der Mensch ein fremdartiges Wesen, das meist an Land anzutreffen ist und das nichts Gutes bringt. Licht, Lärm und Erschütterungen stören den sensiblen, zerbrechlichen Vorgang, der neues Leben bringt. Wie sich das mit Besuchergruppen auf Beobachtungstour vereinbaren lässt? Eine schwierige Frage. Jedenfalls nicht so, wie einem Berggorilla beim Sellerieknabbern zuzuschauen. Zurück an den Strand, im gouachefarbenen Licht des Morgens, warte ich im seichten Wasser mit Taucherbrille und Kamera auf das kleine Wesen, welches soeben vom Meerwasser umspült, sanft gepackt und vom Ufer weggetragen wird. Angenehm kühl, vielleicht sogar vertraut könnte es für die kleine Schildkröte sein, die noch ziellos umherrudert und versucht, sich zu orientieren. In kurzen Abständen schnappt es nach Luft, hebt den blaugrauen Schnabel aus dem Wasser. Es dauert nicht lange, dann macht sich eine gewisse Technik bemerkbar. Die Beinbewegungen werden langsamer, genauer. Immer und immer weiter raus, bis das Jungtier die Strömung kreuzt. Dann wird es mitgerissen, mitgenommen, weit hinaus ins offene Meer, Stürmen, Haien und anderen Gefahren ausgesetzt. Mit der Erinnerung an diesen Ort, an den es, sofern ein Weibchen, Jahrzehnte später zurückkehren wird. Ich wünsche ihm Glück und lasse es ziehen, blicke ihm nach. Ein dunkler, kleiner Fleck. Ein neues Leben. Dann ist nichts mehr zu sehen. Nur blaugrünes Wasser, in das die Strahlen der aufgehenden Sonne dringen. Unter mir pflügt ein kleiner Stachelrochen über den Sand. Ein neuer Tag bricht an.
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